Tag 78-103 | Willkommen in der Pampa Uruguays
- Losgelöst
- 16. Apr. 2020
- 21 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Juni 2020
Samstag, 25.01.2020 bis Mittwoch, 19.02.2020 | Estancia Aguila Blanca, Cerro Colorado

Wir setzen unsere Reise fort
Wir sind aufgeregt. Nach vier Wochen Hostelleben und Gemütlichkeit in Montevideo geht es für uns weiter. Weiter ins Abenteuer, ins Ungewisse. Wir setzen unsere Reise fort. Nach vier Wochen an einem Ort fühlt es sich ganz komisch an, nun wieder unsere Backpacks zu packen. Wie lange haben wir das schon nicht mehr gemacht. Mit lachendem und weinenden Auge verabschieden wir uns von unseren neuen Freunden – Fenix, Tom, Florencia, Jeremias und Myrthe. Wir waren eine kleine Workaway-Familie und haben in den letzten Wochen nicht nur die Unterkunft, sondern auch die Arbeitsschichten geteilt. Dennoch ist er wieder da: der Ruf in unseren Herzen, der sagt, dass es Zeit wird. Zeit, uns wieder vom Gewohnten loszulösen und weiter zu ziehen.
Wir fahren knapp vier Stunden lang mit dem Bus nach Cerro Colorado, einer kleinen Ortschaft nördlich von Minas, die Stadt der Minen. Sie ist bekannt für unzählige Kristalle, die einst in ihrer Umgebung geborgen worden. Heute ist Minas ein beliebtes Ziel für Yoga- und Meditationsfreunde, da immer noch eine wundervolle Energie von der Landschaft ausgehen soll.
Willkommen in der Pampa Uruguays
Es stimmt, was die Reiseführer schreiben – hinter Montevideo kommt ganz schnell das ganz große Nichts – Weite so weit das Auge reicht. Graslandschaften links und rechts, dazwischen eine einzige Straße. Ab und zu durchfährt der Bus eine Ortschaft. Ansonsten sieht man sich lieber an den vielen Kühen und Hügeln am Horizont satt.

Foto: Die großen Verbindungsstraßen sind überraschend gut ausgebaut.
Wir verlassen die einzige Großstadt Uruguays für unser nächstes Abenteuer: einen Monat lang wollen wir auf einer Gaucho-Farm leben, die sich nachhaltigen Tourismus zum Ziel gesetzt hat. Über Workaway haben wir mit Jaime Kontakt aufgenommen. Er holt uns in Cerro Colorado an der einzigen Tankstelle ab, da man sonst nur mit einem eigenen Auto zur Farm kommen würde.
Wie er wohl aussehen wird? Erwartet uns ein junger Kerle oder ein älterer Herr? Wie sieht ein uruguyaischer Gaucho aus? Hat er eine Familie oder lebt er allein auf der Farm? Wir haben kein Foto und auch keine näheren Informationen von Jaime erhalten. Wir vermuten aber von seinem Schreibstil einen älteren Herren.
Aber erst einmal müssen wir nach Cerro Colorado kommen. Wie immer gibt es keine Ansagen im Bus. Wer aussteigen möchte, muss auf sich aufmerksam machen. Mithilfe von unserer Offline-Kartenapp MapsMe können wir zumindest erahnen, wann wir unser Ziel erreichen. Als der blaue Pfeile auf der Karte mit dem Ziel übereinstimmt, schauen wir aus dem Fenster. Oh schau, das da müsste die Tankstelle sein, denken wir uns, während wir daran vorbeifahren. Nun aber schnell. Ab nach vorn, an der Busfahrertür klopfen und irgendwie auf Spanisch sagen, dass wir aussteigen wollen. Wir haben immer noch nicht nachgeschaut, wie man das am besten auf Spanisch sagt. Anscheinend gefällt es uns zu sehr zu improvisieren.
„Seid ihr sicher, dass ihr hier aussteigen wollt? Werdet ihr abgeholt?“ fragt uns der Busfahrer. Er fragt uns das ein weiteres Mal, als er unsere Backpacks für uns aus dem Bus holt. „Ja, ein Freund kommt gleich.“ – „Wie ihr meint, passt auf euch auf.“

Foto: verlassene Straßen in Cerro Colorado in der Provinz Florida, Uruguay
Und da stehen wir. In einer scheinbar verlassenen Ortschaft mitten in der Pampa Uruguays. Wir stehen am sandig staubigen Straßenrand. Die Sonne beißt sich in unsere Haut. Wir lassen uns nicht von den Fragen des Busfahrers verunsichern und tun das, was wir immer tun: darauf vertrauen, dass alles richtig ist und gut wird. Während wir zur Tankstelle laufen, schauen wir uns um: immerhin gibt es einen Bäcker und einen Obst- und Gemüseverkauf. Es hat sich bewährt, sich gewisse Anlaufstellen zu merken – für den Fall der Fälle. Auch wenn wir in dem Moment noch nicht wussten, dass wir für die nächsten vier Wochen tatsächlich nur auf der Farm sein werden.
Plötzlich quietschen Bremsen hinter uns. Ein ranziger weißer Kleinwagen kommt zum Stehen. Darin ein junger blonder Mann, daneben eine dunkelhaarige Frau. Beide grinsen uns an. Beide sehen kaum älter aus als wir. „Müssen wohl die Kinder von Jaime sein“, denke ich, bevor sich der Mann tatsächlich mit gleichem Namen vorstellt. Wir steigen überrascht ein – so jung hätten wir Jaime beide nicht eingeschätzt. Unsere Backpacks landen in der staubigen Ladefläche, wir auf der Rückbank. Die Gurte funktionieren nicht. Fenster gibt es auch keine. So habe ich mir das Auto eines Farmbesitzers vorgestellt. Beide sind sehr herzlich und bieten uns direkt Mate an. Tradition ist eben Tradition. Eine, die uns sehr gefällt. Denn wir lieben Mate, wie wir in Montevideo festgestellt haben.
Jaime ist Halb-Engländer. Deswegen sprechen wir mit ihm überwiegend Englisch. Seine Mutter kommt aus England, sein Vater aus Argentinien. Die letzten Jahre hat er in England gelebt und Kunst studiert. Nachdem sein Vater verstorben ist, ist er nach Uruguay zurückgekehrt, um die Farm am Leben zu erhalten. Er ist auf dieser Farm groß geworden und pendelt heutzutage zwischen Montevideo und der Farm hin und her. Er mag es, für ein paar Tage in der Großstadt zu sein, um dann den Rest der Woche in der Abgeschiedenheit zu leben. Wir sind gespannt, glauben aber, dass wir wieder einmal ein Glückslos gezogen haben.

Foto: Verlässt man die Ortschaften, fährt man bald nur noch über sandige Straßen, die zu den einzelnen Farmen führen.
Wir grinsen uns an und genießen die Fahrt. 45 Minuten fährt uns Jaime bis zur Farm, die übrigens hier Estancia heißt. Wir sehen nichts, außer sandige Straßen und endlose Weiten. Wir sehen unzählige Kühe, Pferde, Esel und sogar Nandus! Greifvögel wechseln sich mit Papageien ab, die auf den Zäunen sitzen oder über die Felder fliegen. Wahnsinn!
Was ist nachhaltiger Tourismus?
Was Jaime mit der Farm versucht, möchte ich vorab kurz erklären: Er träumt vom nachhaltigen Tourismus, d.h. er möchte Menschen die Möglichkeit geben, das Gaucho-Leben kennen zu lernen, ohne dabei einen zu großen negativen Einfluss auf die Umwelt auszuüben. Er möchte den Touristen ein Stück Kulturgut schenken und sie an die weiten und einsamen Landschaften Uruguays heranführen. Dafür werden u.a. Reit-Touren mit den farmeigenen Pferden angeboten, bei denen manchmal auch gemeinsam Kühe getrieben werden können.
Fotos: Die Estancia Aguila Blanca wird unsere Unterkunft für die nächsten Wochen.
Jaimes Ziel ist, so wenig wie möglich auf die Umwelt einzuwirken. Für die Unterbringung der Gäste hat er keine neuen Gebäude gebaut, sondern die bereits bestehenden Farmgebäude umgebaut. Die Mahlzeiten für die Gäste kocht er selbst und verwendet dafür fast vollständig Lebensmittel aus eigenem Anbau. Brot und Kuchen bäckt Jaime jeden Tag frisch. Fleisch bezieht er von seinen über 200 Rindern und Schafen, oder von seinen Schweinen und Hühnern. Dabei schlachtet er die Tiere nur, wenn es unausweichlich ist. Hat er kein Fleisch zur Verfügung, kann es auch vom Nachbarn kommen. Milch wird jeden Morgen von einer Kuh gemolken, nie mehr als das, was er für die Gäste braucht und stets mit dem Kalb, das neben der Mutter stehen darf. Nach dem Melken werden beide wieder auf die Weide entlassen.
Das haben er und seine Familie bisher erreicht. Sein nächstes Ziel ist die vollständige Selbstversorgung hinsichtlich Obst und Gemüse. Er hat bereits einen kleinen Garten mithilfe von anderen Workawayern angelegt – hier wachsen u.a. Tomaten, Kürbisse, Zapollitas (kleine Mini-Kürbisse, die aber eher wie Zucchinis schmecken), Kräuter, Mais und Auberginen. Er möchte auch noch Obstbäume anpflanzen. Wir sind erstaunt und fasziniert. Genau solche Projekte haben wir gesucht. Menschen, die anders denken und den Versuch wagen, sich vom Massentourismus zu distanzieren und mehr im Einklang mit der Natur zu leben, aber dennoch Chancen im Tourismus sehen. Menschen, die nicht nur Schwarz/Weiß denken, sondern auch die Chancen sehen, die dazwischen liegen.
Fotos: Den Garten hat Jaime gemeinsam mit anderen Workawayern gebaut. In naher Zukunft sollen noch weitere Beete hinzukommen.
Rinderhaltung vs. Vegetarismus
Auf der Estancia angekommen, werden wir erst einmal mit Mittagessen verwöhnt – es gibt einen Kartoffel-Linseneintopf mit selbst gebackenen Brötchen. Einfache Gerichte, die Jaime liebt. In Montevideo ist das anders, erklärt er, da isst er den üblichen „Stadtfraß“ – Pizza&Co. Immer, wenn er dann wieder auf der Farm ist, freut er sich über die einfachen, gesunden Gerichte, die er hier zaubert. Jaime selbst ist Vegetarier. Er isst kein Fleisch, hat aber über 400 Tiere auf seinem über 1.000 ha großen Land.
Woran liegt das? Wir fragen nach. Er mag es nicht, Tiere zu halten und sie zu essen. Tiere gehören in die freie Wildbahn. Sie sollten sich frei bewegen können, anstatt eingesperrt zu werden. Auch wenn die Rinder und Schafe hier über 1.000 ha Fläche zur Verfügung haben, werden sie doch von einem Zaun eingegrenzt. Das bezieht er nicht nur auf die Rinder, Pferde und Schafe, sondern auch auf seine Hühner, Hunde und Katzen. Sobald sie sich an die Menschen gewöhnen, werden sie abhängig und können nur noch schwer eigenständig überleben. Hunden gibt man solange Trockenfutter, bis sie vergessen, wie sie selbst Beute erlegen können. Das ist keine Freiheit mehr. Wir Menschen wollen frei sein und überall hingehen dürfen, aber gleichzeitig wollen wir ein Haustier, das bei uns bleibt und um das wir uns kümmern können.
Ein interessanter Ansatz, wie wir finden. Aber würde das nicht bedeuten, dass er seine Rinderfarm aufgeben müsste, um diese Gedanken zu verwirklichen? Er ist hin- und hergerissen. Er hat die Farm vor nicht allzu langer Zeit übernommen. Vorher hatten sein Vater und einer seiner Brüder sich intensiv um sie gekümmert. Jaime war vorher schon Vegetarier und hatte plötzlich einen Job übernommen, in dem er die Tiere halten und ggf. schlachten muss. Er sagt, er hat es sich nicht ausgesucht. Er führt die Farm nicht allein, denn seine Mutter und sein Bruder helfen auch noch mit. Das mit den Tieren ist ein Teil der Familiengeschichte. Es ist sogar Teil der südamerikanischen Geschichte. Diese neu zu schreiben, sei nicht einfach. Fleisch und vor allem das Asado, dem landestypischen Barbecue gehören zum Land und zur Farm dazu. Möchte er den Touristen das wahre Gaucho-Leben zeigen, gehören Rinder und deren Fleisch dazu.

Foto: Das Assado - das südamerikanische Barbecue ist ein fester Bestandteil in der Landesgeschichte. Das Fleisch wird stundenlang über dem offenen Feuer erhitzt.
Wir wollen jedoch auch die andere Seite betrachten: eine Massentierhaltung finden wir hier nicht vor. 200 Rinder und 200 Schafe haben Auslauf auf über 1.000 ha Fläche. Ihnen wird nichts beigefüttert, sie ernähren sich nur von dem, was sie auf den Wiesen finden und sie sind das ganze Jahr über im Freien. Wir sehen hier also eine nachhaltigere Form der Viehhaltung.

Foto: Auf Jaimes Estancia haben die Rinder 1.000 ha Landfläche zur Verfügung.
Rinder als Geldwährung?
Vor allem, weil es in Uruguay noch etwas Besonderes mit den Rindern auf sich hat: Rinder ersetzen hier an vielen Orten die Geldwährung. Viele Gauchos haben kein Bankkonto und bezahlen ihre Schulden mit Rindern. Wenn man ein Kalb geschenkt bekommt, ist das mehr Geld wert als ein paar Scheine. Denn das Kalb wird hier als eine Investition angesehen. Man zieht es groß und züchtet neue Kälber. Jaimes Rinder sind also seine Geldanlagen. Wenn die Familie Geld braucht, werden einfach ein paar Rinder verkauft. So läuft das hier. Es sind also nicht nur die Touristen, die Fleisch fordern. Denn viele von ihnen kommen nach Südamerika, um ein typisches Steak zu essen (denkt nur einmal an ein Argentinisches Rindersteak). Es sind auch die vorgeformten Fußstapfen, in die Jaime getreten ist. Seine eigenen zu setzen, braucht Zeit und viel Mut, wie wir feststellen.
Zukunftschancen im Cannabis-Anbau?
Obwohl Jaime schon eigene Ideen hat: er möchte eine Cannabis-Plantage bauen und die Pflanzen dann nach Europa exportieren. Als Halb-Engländer kennt er die aktuelle Situation in Europa und sieht deshalb große Chancen in der Idee. Immerhin sei Cannabis sehr gefragt und es wird nicht mehr lange dauern, bis auch in anderen Ländern lockerer mit dem Thema umgegangen wird. Wir müssen schmunzeln, denn hier in Uruguay ist es wohl am einfachsten, genau so etwas auf die Beine zu stellen. Er selbst raucht nicht, und ist deshalb eher an der Gewinnung von CBD interessiert. Das ist ein Extrakt aus der Cannabis-Pflanze, den man konsumieren kann, ohne einen Rausch zu erleben und wird meist in Form von Öl angeboten. Das klassische Marihuana zum Rauchen besteht aus dem bekannten Tetrahydrocannabinol, kurz THC).
Schon jetzt hat Jaime in seinem kleinen Garten mehrere Cannabis-Pflanzen, um die wir uns kümmern werden. Allerdings sind das die Pflanzen, die er legal als uruguaischer Bürger anbauen darf. Daran werden wir uns wohl gewöhnen müssen, denke ich mir. Schön anzusehen sind die Pflanzen ja schon, keine Frage.

Foto: Eigenanbau Cannabis - die Pflanze wächst im Beet neben Mais und Kürbis.
Nach dem Mittagessen richten wir uns ein – wir beziehen ein kleines Zimmer, in das ein Bett passt. Nebenan ist ein Wohnzimmer, das wir mit Jaime teilen. Es ist ein Durchgangszimmer, das zum Bad und zu Jaimes privatem Zimmer führt. Wir sind zufrieden. Mehr als ein Bett brauchen wir eh nicht. Wir können sogar unser Moskitonetz aufhängen. Anfangs weil wir uns vor den Moskitos schützen wollen, aber später stellt sich heraus, dass es noch anderes Getier von uns fernhält. Aber dazu später mehr.
Denn jetzt geht es erst einmal zum See – Jaime nimmt uns mit zum Baden. Nur 5 Gehminuten entfernt befindet sich ein riesiger See. An einer Stelle ein Steg, daneben lehnen Kanuboote. Den See hat sein Vater „gebaut“, als Jaime ein kleiner Junge war. Er und seine Brüder haben sich einen Pool gewünscht. Deshalb hat der Vater einen ganzen See in die Landschaft gesprengt. Soso. Damals war eben alles noch ein wenig anders. Es hat aber auch etwas Gutes: nicht nur Jaime und die Farmgäste können sich am kühlen Wasser erfreuen, auch die Rinder, Esel und Wasserschweine gehen liebend gern baden! Es hat sich ein wundervoller Lebensraum für Pflanzen und Tiere entwickelt, der zur Artenvielfalt in der sonst eher ruderalen Graslandschaft beiträgt. Anstatt im See zu baden, kann man auch einmal ringsherum wandern – 2-3 Stunden wäre man dann unterwegs. Man kann sich also die Größe des Sees ausmalen.


Fotos: Der See ist schon von Weitem zu sehen und bietet nicht nur Menschen die Gelegenheit, baden zu gehen.
Als wir nach dem Baden am Ufer sitzen und die Sonne auf unsere Bäuche scheinen lassen, können wir wieder einmal nicht fassen, wohin uns unsere Reise führt. Hier wären wir wahrscheinlich nicht gelandet, hätten wir auch nur ein kleines Detail geplant. Wir haben ca. 10 Projekte bei Workaway angeschrieben und unser Bauchgefühl hat uns zu Jaime gebracht. Manchmal ist es ein wenig unheimlich, wie gut es funktionieren kann, wenn man sich öffnet und einfach treiben lässt.
Unser Arbeitsalltag im Workaway-Projekt
Unser Farmalltag sieht folgendermaßen aus: wir stehen meist gegen 7/8 Uhr auf, frühstücken und beginnen mit der Arbeit, die wir gegen 11/12 Uhr unterbrechen, weil die Hitze zu stark wird. Dann Mittagessen und dann etwas, an das wir uns nur schwer gewöhnen können: Siesta. Siesta ist hier ungemein wichtig. Und das nicht nur für eine Stunde, sondern mindestens für 3-4 h. Das bedeutet, dass die Farm meist von 13 – 16 Uhr wie ausgestorben wirkt. Alle Mitarbeiter (neben Jaime gibt es noch 1-2 Putzfrauen) gehen ein Nickerchen machen oder sich ausruhen. Lukas und ich sind meist die einzigen, die dann noch im Garten sitzen. Wir sind es einfach nicht gewohnt, nachmittags zu schlafen. (Nach den ersten Arbeitstagen schlafen wir dann doch 2-3 Stunden, weil wir die körperliche Betätigung nach 4 Wochen Hostelfaulenzerdasein auch nicht gewohnt sind.)

Foto: Hier unter der Überdachung ist unser Lieblingsplatz während der Siesta-Zeit
Die erste Woche kümmern wir uns intensiv um den Garten und das ganze Grundstück: verblühte Blütenstände von den Stauden abschneiden, Unkraut jäten, Jungbäume am Boden mit Laub abdecken, um die Erde vor der starken Sonneneinstrahlung zu schützen, Unkraut jäten...und Unkraut jäten. Stück für Stück wird das Grundstück von Unkraut befreit und erstrahlt im neuen Glanz.

Foto: Lukas schafft eine Schubkarre voll mit frisch gezupften Unkraut auf den Kompost.
Schnell sind wir dabei jedoch nicht. Denn Jaime hat uns eingebläut, bloß achtsam zu arbeiten und nicht einfach blind in die Beete zu fassen. Warum? Wegen den Schlangen, Spinnen, Skorpionen, aber auch wegen den verteidigungsfreudigen Bienen. Achja, da war ja was. Wir sind immerhin in Südamerika und hatten bisher noch keinerlei Berührungen mit Tieren, außer mit Kakerlaken im Hostel, aber die tun ja nichts. Doch seien keine dieser Tiere giftig oder gar tödlich. Selbst wenn man von einem Skorpion gestochen wird, sei es vergleichbar mit einem Wespenstich. Es gibt zwar wohl eine tödlich giftige Schlange, aber die hat Jaime schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Aber für den Fall der Fälle: sie ist braun und hat schwarze Kreuze auf dem Rücken...nicht dran denken, das hilft.

Also heißt es, erst leicht gegen die Pflanzen treten, warten und inspizieren, dann vorsichtig ins Unkraut fassen und ziehen. Das zieht sich. Zu nah an Bienennester hat uns Jaime dann aber nicht gelassen. Meist haben sie ihre Nester in Baumhöhlen oder am Boden. Kommt man ihnen zu nahe, greifen sie an. Aber keine Angst, wir leben ja noch (Lukas wurde nur einmal von einer Biene angegriffen und zweimal gestochen). Unsere Begegnungen mit Tieren halten sich tatsächlich in Grenzen: ein paar Spinnen beim Gärtnern, zweimal eine in der Dusche, im Auto, eine tote Schlange im Garten,...
Spinnenfotos: Im oberen Bild muss man schon etwas suchen. Tipp: Die Spinne sitzt in der unteren linken Bildhälfte.
Na gut...einmal war es doch aufregend: abends vor dem Schlafengehen haben wir einen Skorpion in unserem Zimmer entdeckt. Er hat sich im Moskitonetz verheddert. Auch wenn bei uns alle Haare beim Anblick zu Berge stehen: wir wollen ihn nicht töten. Mit dem alten Glas- und Zeitungstrick gelingt es uns, ihn nach draußen zu befördern. Man muss halt doch immer achtsam sein und darf sich nicht in Sicherheit wiegen. Übrigens schauen wir auch jedes Mal unter die Klobrille, bevor wir uns setzen. Nur für den Fall...
Fotos: Skorpion unterm Bett! Faszinierendes Tierchen und furchteinflößend zugleich. Das untere Bild zeigt, wie winzig er im Vergleich zu einer A4-großen Zeitschrift ist.
Für alle, denen die Gänsehaut nun auch zu Berge steht: es gibt auch süße Tierchen auf der Farm, bei deren Anblick es warm ums Herz wird. Hier ein kleiner Einblick, damit ihr frohen Mutes weiterlesen könnt:
Fotos: Kuschelzeit mit den Tierchen, die uns gerne auf die Pelle rücken dürfen!
Neben dem Gärtnern ist Malern unsere Hauptaufgabe. Wir schaffen sogar richtig viel. Ein Zaun erstrahlt im neuen Glanz, das Dach beginnen wir, neu einzupinseln und sogar ein Gebäudekomplex streichen wir im neuen Weiß. Alte Kleidung bekommen wir zum Glück von Jaime. Die Farbspritzer, die auf unsere Schuhe landen, dürfen bleiben und werden zu ganz besonderen Erinnerungen.

Foto: Das alte Dach soll in neuem Rot-Glanz erstrahlen.
Das Dach ist eine der Aufgaben, die wir nicht so gern gemacht haben. Man hat keinen Schatten und die Sonne spiegelt sich in der glatten Oberfläche. Lange Kleidung und Kopf- sowie Augenschutz sind da Pflicht. Außerdem hat sich in dem abgebildeten Schornstein ein Bienennest eingerichtet. Wir haben also nicht nur mit der Höhe und der Hitze, sondern auch mit skeptischen Bienen zu tun, die ständig um einen herumsurren.
Aber von allen Arbeiten, die wir hier machen dürfen, hat eine mit Abstand den letzten Platz verdient. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Scheiß-Arbeit. Zum Gaucho-Leben gehört auch, die Schafe bzw. deren Wolle ungezieferfrei zu halten. Das geschieht hier wie folgt: der Kanal wird mit Wasser gefüllt. Dort hinein wird ein desinfizierendem Shampoo gegeben. Die Schafe werden nun versammelt und dürfen einzeln hintereinander weg ein Bad nehmen, indem sie durch das Wasser schwimmen.
Unsere Aufgabe ist es jedoch nicht, die Schafe baden zu schicken, sondern vorher die Badewanne zu putzen.
Das bedeutet, das alte Wasser mit Eimern entfernen und die unten angesammelte Plörre irgendwie nach draußen zu befördern. Die Herausforderung ist dabei, dass der Kanal ca. 50 cm breit ist. Viel Bewegungsfreiheit bleibt da nicht. Nach 3 Stunden Eimern haben wir dann fast alles entfernen können. Die Badewanne ist bereit für das Schafsbad (bei dem wir nicht mehr dabei waren).
Daraus lernen wir: es gibt eben nicht nur angenehme Aufgaben bei einem Workaway-Projekt. Aber das ist auch das Schöne dabei: es ist echt. Wir lernen, wie es wirklich ist. Wir schauen hinter die Kulissen. Dadurch eröffnet sich uns die Möglichkeit, Neues (kennen) zu lernen und auch uns besser kennen zu lernen. Ganz nach dem Motto: Man wächst mit seinen Aufgaben.
Fotos: Eine Beton-Badewanne, die später mit Wasser gefüllt wird, sodass Schafe von einem Ende zum anderen schwimmen können.
So viel beschäftigt wie das klingen mag: wir waren einen Großteil der Zeit ganz allein auf dem Anwesen. Jaime fährt immer dann nach Montevideo, wenn keine Gäste da sind. In diesen Tagen fällt es uns schwer, produktiv zu bleiben, vor allem, weil die Sonne unerträglich heiß in der Mittagshitze scheint. Wir sind vollkommen abgeschieden, die nächste Ortschaft ist 45 min mit dem Auto entfernt, doch wir haben kein Auto zur Verfügung. Manchmal ist es für uns nicht so leicht, damit gut umzugehen. So viel Zeit zu haben. Selbst der Schöpfer seines Tages zu sein. Manchmal überfordert uns das und dann vermissen wir unseren alten Joballtag – mit festen Arbeitszeiten, Feierabend und Verabredungen. Hier haben wir Tag für Tag nur uns und das Anwesen und über 1.000 ha Land. So viel Weite, so viel Freiheit und dann überfordert sie uns. Das ist schon ein wenig komisch.
Doch uns wird bewusst: Wir haben es a) so gewählt und b) ist das das bescheidene Leben eines Gauchos. In völliger Abgeschiedenheit leben die südamerikanischen Cowboys in der Pampa Uruguays (und anderen südamerikanischen Ländern) und leben mit und von ihren Rindern. In unserer Zeit auf der Estancia lernen wir dann doch noch einen waschechten Gaucho kennen – Eduardo (Jaime könnte aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes auch Europäer sein). Eduardo wohnt auch auf der Estancia in einem etwas abgelegenen Gebäude und sieht so aus, wie man sich ihn vorstellt– dunkle Haare und braun gebrannt. Er trägt die typische Gaucho-Kleidung: stets ein Gaucho-Messer (facón) am Gürtel, Pumphose (bombacha), Baskenmütze (boina) und Leinenschuhe, sogenannte „alpargatas“ (in Europa als Espadrilles bekannt). Eduardo arbeitet schon seit Jahren auf der Estancia und dabei ist er gerade einmal 26 Jahre alt. Er ist für alle Tiere verantwortlich – Herden treiben, Schlachten, Füttern. Als auch er hin und wieder bei seiner Familie in der nächsten Stadt ist, kümmern wir uns um die Tiere, vor allem um eins ganz besonders:
Fotos: Für das Kalb erwärmen wir Milch und servieren sie liebevoll in einem Eimer. Die Kraft des jungen Kalbes darf man dabei nicht unterschätzen.
Dreimal täglich erinnert uns ein ungeduldiges Muhen in der Ferne an unsere wohl wichtigste Aufgabe. Das Kalb füttern. Hier bestätigt sich, was wir schon gelernt haben: das Kalb ist ein Geschenk eines Nachbarn und die Bezahlung von Eduardo, weil er ihm bei der Arbeit geholfen hat. Es ist eine Investition, denn sobald das Kalb groß ist, kann es Nachwuchs bekommen und vermehrt somit sinnbildlich Eduardos Vermögen.
Kontakt mit den Gästen auf der Farm
Ansonsten bieten auch die Gäste ein wenig Abwechslung. Es kommen in unserer Zeit einige auf die Farm – aus Deutschland, der Schweiz, den USA und Brasilien. Bei den deutschen Gästen durften wir uns sogar ein wenig einbringen – und mit einigen von ihnen ausreiten. Für uns hieß es also das erste Mal auf ein Pferd zu sitzen und 1-2 h durch die freie Wildbahn zu reiten. Eine große Einweisung gibt es nicht. Werde eins mit dem Pferd, lenke es sanft, aber bestimmt. Den Rest macht der Herdentrieb. Das waren Eduardos Worte.
Auf den Pferden fühlen wir uns tatsächlich noch mehr mit Uruguay und dem Gaucho-Leben verbunden. Wir reiten durch die endlose Graslandschaft, am See entlang, sehen Gürteltiere und Wasserschweine. Wir reiten dem Sonnenuntergang entgegen treiben Kühe und Schafe. In solchen Moment vergessen wir, in welch technisch basierter Welt wir in Europa leben. Wie viel wir in unserer Heimat haben und doch manchmal nicht glücklich waren. Weil wir es nicht wahrgenommen haben und unseren Fokus auf das gerichtet haben, was wir nicht haben, anstatt uns daran zu erfreuen, was wir haben. Nun leben wir hier einen Monat lang auf der Estancia und sehen das Glück in Eduardos Augen. Sehen sein warmherziges Lächeln, wenn er bei seinen Tieren ist, sehen sein Selbstbewusstsein, wenn er auf dem Pferd sitzt, sehen seine Familienfotos an seiner Hauswand. Alles ist einfach. Alles ist gut. So viele Chancen wir in dem technischen Fortschritt sehen, die Isolation und Abgeschiedenheit kann so viel erfüllender sein.


Auch wenn mir beim Reiten Jaimes Worte nicht aus dem Kopf gehen. Wer bin ich, dass ich dieses Pferd kontrollieren möchte? Was befähigt mich dazu, mich auf dieses Pferd zu setzen und zu bestimmen, in welche Richtung und wie schnell es gehen soll? Ich halte die Zügel in der Hand und mir dämmert, was Jaime meint. Das Pferd ist erst frei, wenn es keinen Sattel mehr aufgesetzt bekommt. Egal, wie groß der Stall oder das Land ist, auf dem es freien Auslauf hat, am Ende steht doch ein Zaun, der seine Freiheit begrenzt.
Das Gaucho-Leben für Touristen, ein Stück südamerikanische Kulturgeschichte, prallt hier auf das rebellische Denken eines Halb-Europäers, der in beiden Welten aufgewachsen ist. Ich kann es verstehen.
Jaime fasziniert uns ebenso wie Eduardo. Je mehr Zeit wir mit ihm verbringen, desto mehr regt sich in uns. Wir werden dankbarer für das Leben, das wir führen. Für die Freiheit, die wir uns nehmen, uns loszulösen und wachsen zu wollen, fernab der Heimat. Jaime nimmt uns die alte Gewohnheit, alles zu hinterfragen, aus Angst, nicht zu gefallen oder zurückgewiesen zu werden. Jaimes macht einfach, weil er es gut findet. Er kann nicht das ganze Estancia-Konzept seiner Familie ändern, aber er kann seine Note einbringen. Er möchte Gemüse anbauen, also baut er einen Garten. Er möchte eine Cannabis-Plantage bauen, also plant er. Er möchte sein eigenes Haus in den Wasserfällen errichten, also baut er. Er macht einfach, denn es könnte ja gut werden.

Foto: Die Wasserfälle in der Nähe der Estancia, liegen aufgrund der schon seit Monaten anhaltenden Dürre etwas trocken.
Eines Tages nimmt er uns mit zu den Wasserfällen und zeigt uns sein eigenes Haus, in dem er in einigen Jahren wohnen möchte. Mitten in die Steinwände hat er begonnen, ein Haus zu bauen. Riesige Glaswände, liebevoll eingerichtet mit Dingen, die er irgendwo gefunden hat. Das Badezimmer fehlt noch, aber die Natur hält solange her. Hier ist sein riesiger Garten, hier hat er Obstbäume angepflanzt. Dort möchte er einen Yoga-Platz erschaffen, weil der Ausblick so schön ist. Und dort drüben, auf dem Stein, wäre doch ein guter Ort zum Meditieren, oder? Daneben ein Schwimmteich, und an diesen und jenen Stellen sollen Hütten errichtet werden, damit er Freunde und Gäste einladen kann. Vielleicht später sogar Touristen, die für eine gewisse Zeit in noch größerer Abgeschiedenheit als auf der Estancia leben wollen. Denn die Wasserfälle sind nur zu Fuß erreichbar.
Foto: Die Wasserfälle sind eine besondere Attraktion, nicht nur für Touristen.
Jaime erschafft sich hier in den Gesteinsformationen ein Paradies, er verwirklich seine Ideen. Aber er lässt sich auch Zeit dafür – er baut alles allein oder mit der Hilfe von Freunden. Jedes Material wird einzeln verarbeitet und das braucht Zeit. Jetzt besteht der Großteil der Flächen aus ungezähmter Natur. Er schätzt, dass er in 5 Jahren mit seinem Haus und dem Garten fertig sein wird. Aber der Weg sei ja das Ziel. Er hat keinen Plan auf Papier, er nimmt den Bauprozess, wie er kommt mit den Materialien, die er findet. Wir sind begeistert und vereinbaren, dass wir eines Tages zu diesem Ort zurückkehren wollen, gern auch, um ihm bei der Verwirklichung seines Traumes zu helfen.

Fotos: Im oberen Bild sieht man das obligatorische Erinnerungsfoto mit Jaime. Die anderen beiden Bilder zeigen die Stelle, an der später eine Hütte für Gäste errichtet werden soll sowie einen Weg, den wir von Gehölz befreiten.
Bis dahin helfen wir ihm an einigen Tagen dabei, Wege mit der Machete zu schlagen und einen geplanten Bachverlauf freizuräumen. Außerdem nutzen wir die Zeit an den Wasserfällen, um für einen Moment innezuhalten und die Natur zu bewundern. Es ist wirklich eine magische Energie an diesem Ort. Als würde die Luft vibrieren. Angst vor Tieren habe ich nicht, als ich mich zwischen die Wasserflächen auf einen Stein setze und die Augen schließe.

Foto: Meditation an den Wasserfällen. Eine wundervolle, positive Atmosphäre herrscht an diesem Ort, an dem man nur das Wasserrauschen und Tiergeräusche wahrnehmen kann.
In den letzten Tagen auf der Estancia steht noch ein besonders Ereignis bevor: ich darf meinen 28. Geburtstag feiern. An diesem Tag üben wir uns besonders in der Sache, für die wir unsere Reise begonnen haben: wir lösen uns los. Wir lösen und von alten Denkmustern und Erwartungen und hören stattdessen auf unser Herz. Als mich Lukas fragt, was ich mir zum Geburtstag wünsche, wurde mir klar, dass ich keine Geschenke brauche, um glücklich zu sein. Ich habe mein Herz sprechen lassen und habe mir gewünscht, Zeit in der Natur zu verbringen. Heute wünsche ich mir, wieder einmal Kind zu sein. Allein morgens zum Sonnenaufgang auf die Weide gehen, mir einen Baumstumpf suchen und der Sonne beim Aufgehen zusehen. Einfach nur dasitzen und alles um mich herum wahrnehmen. Sich an der Fülle erfreuen, die einen umgibt.

Foto: Morgendliche Stimmung beim Sonnenaufgang. Trotz Wolkendecke wunderschön.

Danach gibt es einen Kuchen von Lukas. Ein Geburtstagskuchen gelingt auch mit wenigen Zutaten und ohne Schnickschnack. Happy birthday, Sandra! Wie sehr man sich darüber freuen kann! Kuchen zum Frühstück! Worauf hat mein inneres Kind heute noch Lust? Einige Partien Tischtennis, dem Regen zuschauen, andere Menschen anlächeln. Und eine Sache, die mir immer bewusster wird: in der Natur sein. Deshalb spazieren wir runter zum See und verbringen hier Zeit, solange wie wir wollen. Wir machen die Boote startklar und paddeln auf den See. Wir genießen die Laute der Natur – lauschen, wie die Boote auf dem Wasser gleiten, wie die Paddel in das Wasser eintauchen, wie die Vögel und die Insekten uns umfliegen, wie die Kühe ins Wasser gehen und sich etwas zurufen. Wir fühlen die warme Sonne auf der Haut und sehen die glitzernden Spiegelungen auf dem Wasser. Wir können uns kaum freier fühlen. Wir erlauben uns, wieder wie Kinder zu sein. Mit den Augen von Kindern die Umgebung wahrzunehmen und uns gegenseitig mit den Paddeln nass zu spritzen. Dabei laut zu lachen und auch uns darin zu messen, wer schneller paddeln kann.
Fotos: Wir sind wieder einmal am See, mit dem die Zeit hier auf der Estancia begonnen hat und lassen uns von unseren inneren Kindern leiten.
Mit jedem Paddelschlag bestimmen wir die Richtung, die wir einschlagen. Mal schneller, mal langsamer, mal mit und mal gegen die Strömung, doch wir bleiben nie stehen. So wie im Leben auch. Wir entscheiden in jedem Moment, wer und wie wir sein wollen. Wie wir leben wollen. Wie wir zu uns selbst und zu anderen Menschen sein möchten. Mit jedem Atemzug können wir unser Leben gestalten. Es liegt in unseren Händen. Sagen wir Nein, obwohl wir Ja sagen wollen oder sprechen wir ab sofort immer unsere innere Wahrheit? Stehen wir zu unseren Gefühlen und Gedanken, ohne Angst davor zu haben, damit anzuecken oder den Erwartungen von anderen Menschen nicht zu entsprechen? Lösen wir uns davon los, um glücklich zu sein, um wahrhaft wir selbst zu sein?
An diesem Tag wird uns bewusst, dass wir alle verletzte Kinder in uns tragen, deren Kummer wir jahrzehntelang mit uns herumtragen und unterdrücken. Weil wir sein sollen, wie es andere gern hätten. Weil wir Liebe suchen, die uns im Außen nicht gegeben wurde. Weil wir uns verbiegen, um anderen zu gefallen. Weil wir ein fremdgesteuertes Leben führen, anstatt unser eigenes zu leben. Davon möchten wir uns lösen, denn es ist nicht wahr.
Was wirklich zählt, ist, dass wir unser Leben führen, so wie es uns glücklich macht. In Liebe und gegenseitigem Respekt, indem wir uns selbst und unsere Mitmenschen unterstützen. Es gibt immer eine Entscheidung, die wir selbst treffen können. Wir haben immer eine Wahl: entweder geben wir uns der inneren Angst hin oder wir bleiben im Vertrauen und in Liebe.
Es gibt eine Parabel, die das schön umschreibt:
Ein alter Indianer saß mit seinen Enkeln am Lagerfeuer. Es war schon dunkel und das Feuer erleuchtete den Abendhimmel. Nach einer Weile des Schweigens erzählte der weise Alte seinen Enkeln von einem inneren Kampf, der seit Urzeiten in jedem Menschen stattfindet:„Im Leben eines jeden Menschen gibt es zwei innere Wölfe, die miteinander um sein Herz kämpfen und ringen. Einer der beiden ist rachsüchtig, aggressiv und grausam. Er verspürt Ärger, Angst, Verleugnung, Neid, Eifersucht, Sorgen, Gier, Arroganz, Selbstmitleid, Einschränkung, Lügen, Schuld, Überheblichkeit und Missgunst. Der andere hingegen ist liebevoll, sanft und mitfühlend. Er verspürt Heiterkeit, Freude, Frieden, Liebe, Hoffnung, Wirksamkeit, Offenheit, Freundschaft, Gelassenheit, Selbstbestimmung, Wahrhaftigkeit, Güte, Wohlwollen, Großzügigkeit, Dankbarkeit, Vertrauen, Klarheit und Weisheit.”
Die Enkel dachten eine Weile über die Worte nach und einer von ihnen fragte sodann: “Welcher der beiden wird den Kampf um das Herz gewinnen?”.
“Der Wolf, der am häufigsten gefüttert wird.” (Quelle unbekannt)
Dabei geht es nicht darum, den jeweils anderen Wolf, die jeweils andere Seite zu ignorieren und zu unterdrücken. Es geht darum, beide Seiten kennen zu lernen und beide zu akzeptieren. Denn sowohl die Angst als auch die Liebe sind Teil von uns und werden immer ein Teil von uns bleiben. Wichtig ist, beide zu akzeptieren und zu fühlen und jeden Tag von Neuem zu wählen, welche der beiden Seiten wir ausleben wollen.
Welchen Wolf wirst du füttern?

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